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William Kane wuchs rasch, und alle, die um ihn waren - in seinen ersten Lebensjahren waren es im allgemeinen bewundernde Verwandte und ergebene Bedienstete - fanden, daß er ein reizendes Kind war.
Im obersten Stockwerk des Hauses am Louisburg Square auf Beacon Hill - es war ein Haus aus dem 18. Jahrhundert - hatte man ein Kinderzimmer eingerichtet und mit Spielzeug vollgestopft. Ein weiteres Schlafzimmer und ein Wohnzimmer standen dem neuen Kindermädchen zur Verfügung. Das Kinderzimmer war so weit von Richard Kane entfernt, daß er von Problemen wie Zähnen, nassen Windeln und dem lauten Geschrei nach mehr Nahrung unberührt blieb. Der erste Zahn, der erste Schritt, das erste Wort - das alles wurde von Williams Mutter in ein Familienbuch eingetragen, ebenso wie Größe und Gewicht des Kindes. Anne war erstaunt, daß diese Eintragungen sich kaum von jenen über andere Kinder unterschieden, die sie kannte.
Das aus England importierte Kindermädchen führte ein Regiment, das einem preußischen Kavallerieoffizier gefallen hätte. Jeden Tag um Punkt sechs kam Williams Vater zu Besuch. Da er sich weigerte, eine Babysprache zu sprechen, redete er überhaupt nicht mit dem Kleinen; die beiden starrten einander nur an. William packte den Zeigefinger des Vaters, den Finger, mit dem dieser die Kontoauszüge durchblätterte, und hielt sich daran fest. Richard gestattete sich ein Lächeln. Nach einem Jahr wurde die Routine insofern ein wenig verändert, als der kleine Junge hinunterkommen durfte, um seinen Vater zu besuchen. Richard saß in seinem dunklen Ledersessel mit der hohen Lehne und schaute zu, wie sein Erstgeborener auf allen vieren zwischen den Möbeln umherkroch und immer dort auftauchte, wo man ihn am wenigsten erwartete, woraus Richard schloß, daß sein Sohn bestimmt Senator werden würde. Mit dreizehn Monaten machte William, an die Rockschöße seines Vaters geklammert, die ersten Schritte. Sein erstes Wort war »Papa«, worüber man allgemein entzückt war, einschließlich der Großmütter Kane und Cabot, die zu den regelmäßigen Besucherinnen zählten. Sie schoben den Kinderwagen, in dem William durch Boston spazierenfuhr, nicht wirklich, aber sie ließen sich jeden Donnerstagnachmittag herbei, einen Schritt hinter dem Kindermädchen zu marschieren und die andern Kinder mißbilligend anzuschauen, die ein weniger diszipliniertes Gefolge hatten. Während die anderen Kinder in den öffentlichen Parkanlagen Enten fütterten, schloß William Freundschaft mit den Schwänen auf dem Teich vor Mr. Jack Garners extravagantem venezianischen Palais.
Nach zwei Jahren deuteten die beiden Großmütter taktvoll an, daß es an der Zeit für ein zweites Wunderkind sei, einen Spielgefährten für William. Anne, fügsam wie immer, wurde sofort schwanger und war unglücklich, als sie sich vom vierten Monat an immer schlechter fühlte.
Als Doktor MacKenzie die werdende Mutter untersuchte, hörte er auf zu lächeln, und als Anne kurz darauf eine Fehlgeburt hatte, war er nicht erstaunt, erlaubte ihr jedoch nicht, in Kummer zu versinken. Er sagte zu ihr: »Anne, Sie haben sich so schlecht gefühlt, weil Sie einen zu hohen Blutdruck haben, der mit fortschreitender Schwangerschaft noch höher geworden wäre. Bisher haben die Ärzte noch kein Mittel gegen zu hohen Blutdruck gefunden, wir wissen nur, daß er für schwangere Frauen besonders gefährlich ist.«
Anne hielt die Tränen zurück und versuchte sich eine Zukunft ohne weitere Kinder vorzustellen.
»Bei meiner nächsten Schwangerschaft wird sich das doch bestimmt nicht wiederholen?« fragte sie und versuchte, dem Arzt eine günstige Antwort zu entlocken.
»Ich wäre erstaunt, wenn es nicht der Fall wäre, meine liebe. Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber ich muß Ihnen von einer weiteren Schwangerschaft abraten.«
»Aber es macht mir nichts, wenn ich mich ein paar Monate schlecht fühle, solange…«
»Ich spreche nicht davon, daß Sie sich schlecht fühlen, Anne, ich spreche davon, daß Sie nichts Lebensgefährliches riskieren dürfen.«
Das war ein furchtbarer Schlag für Richard und Anne, die beide Einzelkinder gewesen waren; ihre Väter waren früh verstorben. Sie hatten auf eine Familie gehofft, die der Größe des Hauses und ihrer Verantwortung gegenüber der nächsten Generation entsprechen würde. »Was sonst kann eine junge Frau tun?« fragte Großmutter Cabot Großmutter Kane. Niemand erwähnte mehr das Thema, und alle konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf William.
Richard, der 1904 nach dem Tod seines Vaters
Präsident der Kane and Cabot Bank and Trust
Company wurde, hatte sich immer schon in seine Arbeit, das
Bankgeschäft, vergraben. Seine Bank, die sich - eine Bastion
architektonischer und finanzieller Solidität - in der State Street
befand, hatte in New York, London und San Franzisko Filialen. Kurz
nach Williams Geburt wurde letztere ein Problem, als sie ebenso wie
die Crocker National Bank, die Well Fargo und die California Bank
zusammenbrach, und zwar nicht finanziell, sondern im wahrsten Sinn
des Wortes: nämlich beim großen Erdbeben von 1906. Richard, ein
vorsichtiger Mann, war bei Lloyds of
London hoch versichert, und wie es Gentlemen geziemt, zahlten
diese bis auf den letzten Cent, so daß Richard die Bank wieder
aufbauen konnte. Trotzdem verbrachte Richard ein unangenehmes Jahr
damit, mit dem Zug zwischen Boston und San Franzisko hin- und
herzufahren - eine Reise, die damals vier Tage in Anspruch nahm -,
um den Wiederaufbau zu überwachen. Im Oktober 1907 eröffnete das
neue Büro auf dem Union Square; gerade im richtigen Moment, denn er
mußte seine Aufmerksamkeit nun neuen Problemen an der Ostküste
zuwenden. Es gab einen kleineren Run auf die New Yorker Banken, und
viele der weniger bedeutenden Bankhäuser hatten Mühe, ihn zu
überleben. J. P. Morgan, der legendäre Vorsitzende der mächtigen
Bank, die seinen Namen trug, forderte Richard auf, sich einem
Konsortium anzuschließen, um gegen die Krise gefeit zu sein.
Richard stimmte zu, der mutige Schritt bewährte sich und die Krise
ging vorüber, aber Richard hatte sie einige schlaflose Nächte
gekostet.
William hingegen schlief fest und gut, unberührt von Erdbeben und
Bankrott. Schließlich gab es Schwäne, die gefüttert werden mußten,
und es gab endlose Fahrten nach Milton, Brookline und Beverly zu
den vornehmen Verwandten.
Im Vorfrühling des folgenden Jahres kaufte Richard ein neues Spielzeug, das im Zusammenhang mit einer vorsichtigen Kapitalanlage bei einem Mann namens Henry Ford stand. Dieser Mann behauptete, er könne ein Auto für das Volk produzieren. Die Bank lud Mr. Ford zum Lunch ein, und Richard wurde überredet, für die stolze Summe von achthundertfünfzig Dollar ein Modell T zu kaufen. Henry Ford versicherte Richard, daß der Preis im Laufe von wenigen Jahren auf dreihundertfünfzig Dollar fallen und alle Leute sein Auto kaufen würden, wenn ihn die Bank unterstützte; der Gewinn für die Kapitalgeber würde beachtlich sein. Richard stieg ein; es war das erste Mal, daß er jemanden finanzierte, der sein Produkt um die Hälfte verbilligen wollte.
Anfangs war Richard etwas besorgt, daß ein Auto, selbst ein dezentes schwarzes, für einen Bankpräsidenten kein seriöses Transportmittel sei, aber die bewundernden Blicke der Fußgänger beruhigten ihn bald. Das Auto fuhr fünfzehn Kilometer in der Stunde und machte mehr Krach als ein Pferd, doch hatte es den Vorteil, nicht mitten auf Mount Vermont Street Schmutzhaufen zu hinterlassen. Richard ärgerte sich nur, weil Henry Ford nicht auf seinen Vorschlag eingehen wollte, das Modell T in verschiedenen Farben zu erzeugen. Ford bestand darauf, alle Autos schwarz zu liefern, um den Preis möglichst niedrig zu halten. Anne, die mehr auf die Spielregeln der Gesellschaft achtete als ihr Mann, fuhr erst im Auto, als auch die Cabots eins gekauft hatten.
William hingegen liebte das »Automobil«, wie es die Zeitungen nannten, abgöttisch und war sofort überzeugt, daß man das Auto nur für ihn gekauft hatte, um den jetzt überflüssigen Kinderwagen zu ersetzen. Auch zog er den Chauffeur - mit großer Brille und flacher Mütze - seinem Kindermädchen vor. Die Großmütter Kane und Cabot erklärten, daß sie niemals diese schrecklichen Maschinen benützen würden, und sie hielten auch Wort, obwohl diesbezüglich anzumerken ist, daß Großmutter Kane in einem Auto zu ihrem Begräbnis gefahren wurde, worüber sie allerdings nicht informiert worden war.
Während der folgenden zwei Jahre wurden sowohl die Bank als auch William immer größer und kräftiger. Die Amerikaner investierten wieder, und große Geldsummen fanden ihren Weg zu Kane and Cabot, um in Projekten wie der Lederfabrik in Lowell, Massachusetts, investiert zu werden. Richard nahm das Wachstum seiner Bank und das Wachstum seines Sohnes ohne Verwunderung, aber mit Befriedigung zur Kenntnis. An Williams fünftem Geburtstag entfernte er das Kind aus der Obhut der Frauen und engagierte um vierhundertfünfzig Dollar pro Jahr einen Hauslehrer namens Mr. Munro, den er persönlich aus einer Liste von acht Bewerbern aussuchte, die von seinem Privatsekretär zusammengestellt worden war. Mr. Munro sollte dafür sorgen, daß William mit zwölf Jahren für den Eintritt in St. Paul’s bereit sein würde. Der neue Hauslehrer gefiel William; er fand ihn sehr alt und sehr gescheit. Tatsächlich war er dreiundzwanzig und im Besitz eines Diploms (mit Auszeichnung in Englisch) von der Universität Edinburgh.
Schreiben und Lesen erlernte William ohne Schwierigkeiten, aber seine Liebe gehörte den Zahlen. Er beklagte sich, daß es unter den täglichen acht Unterrichtsstunden nur eine einzige Arithmetikstunde gab. Sehr bald erklärte William seinem Vater, daß ein Achtel des Arbeitstages für das Rechnen ein geringer Zeitaufwand für jemand sei, der einmal Bankpräsident werden wollte.
Um die mangelnde Voraussicht seines Lehrers auszugleichen, quälte William alle Verwandten in Reichweite, ihm Rechenaufgaben zu stellen, die er im Kopf lösen konnte. Großmutter Cabot, die man nie davon überzeugen konnte, daß eine Zahl dividiert durch vier dasselbe Resultat ergibt wie eine Zahl mal ein Viertel - und tatsächlich ergaben diese beiden Rechenoperationen bei ihr oft verschiedene Resultate -, wurde binnen kurzem von ihrem Enkel überflügelt; doch Großmutter Kane, die intellektuelle Ansprüche stellte, plagte sich heroisch mit vulgären Bruchzahlen, Zinseszinsen und der Verteilung von acht Kuchen an neun Kinder.
»Großmutter«, sagte William freundlich, aber bestimmt, als sie wieder einmal nicht imstande war, eine Aufgabe zu lösen, »kauf mir einen Rechenschieber; dann muß ich dich nicht mehr belästigen.«
Sie war zwar verblüfft über die Frühreife ihres Enkels, aber sie kaufte ihm das Gewünschte und fragte sich, ob er den Rechenschieber wohl benutzen konnte. Es war dies das erste Mal, daß Großmutter Kane den bequemsten Ausweg aus einer Situation wählte.
Richards Probleme verlagerten sich ostwärts. Der Präsident seiner Londoner Filiale starb an seinem Schreibtisch, und Richard hatte das Gefühl, daß seine Anwesenheit in der Lombard Street vonnöten sei. Er schlug Anne vor, ihn gemeinsam mit William zu begleiten; eine Reise nach Europa sei bestimmt erzieherisch wertvoll, und William könnte alle Orte besuchen, von denen ihm Mr. Munro so oft erzählt hatte. Anne, die noch nie in Europa gewesen war, gefiel der Vorschlag, und sie füllte drei Schrankkoffer mit eleganten neuen Kleidern, um sich der Alten Welt standesgemäß zu präsentieren. William fand es unfair von seiner Mutter, daß sie ihm nicht erlauben wollte, etwas ebenso Wichtiges auf die Reise mitzunehmen, nämlich sein Fahrrad.
Die Kanes fuhren per Zug nach New York, um sich dort auf der Aquitania einzuschiffen und nach Southampton zu reisen. Der Anblick der vielen Einwanderer, die auf der Straße ihre Waren feilboten, schockierte Anne, und sie war froh, als sie an Bord und in der Sicherheit ihrer Kabine war. William hingegen war tief beeindruckt von der Größe New Yorks; bisher war er der Meinung gewesen, die Bank seines Vaters sei das größte Gebäude Amerikas, wenn nicht der Welt. Von einem weißgekleideten Mann mit Strohhut wollte er unbedingt rosa und gelbe Eiscreme kaufen, doch sein Vater erlaubte es nicht; außerdem hatte Richard niemals Kleingeld bei sich.
Das große Schiff gefiel William sofort, und er befreundete sich rasch mit dem Kapitän, der ihm alle Geheimnisse des Stolzes der Cunard Linie zeigte. Richard und Anne, die natürlich am Kapitänstisch saßen, hielten es bald nach der Abreise für angebracht, sich zu entschuldigen, daß ihr Sohn die Mannschaft so oft belästigte.
»Macht gar nichts, macht nichts«, sagte der weißbärtige Kapitän, »William und ich sind bereits gute Freunde. Ich wollte nur, ich könnte alle seine Fragen über Zeit, Geschwindigkeit und Entfernungen beantworten. Der Schiffsingenieur bereitet mich jeden Abend vor, damit ich am folgenden Tag die richtigen Antworten gebe.«
Nach sechs Tagen lief die Aquitania in Southampton ein. William ging nur ungern von Bord, und sicherlich wären Tränen geflossen, hätte nicht am Kai ein Rolls-Royce Silver Ghost, komplett mit Chauffeur, gewartet, der die Familie nach London brachte. Ohne viel nachzudenken, beschloß Richard augenblicklich, das Auto am Ende der Reise nach New York mitzunehmen - eine spontane Entscheidung, die für ihn höchst uncharakteristisch war.
Anne gegenüber behauptete er wenig überzeugend,
daß er Henry Ford das Auto zeigen wolle.
Wann immer die Kanes in London waren, stiegen sie im Ritz in
Piccadilly ab, von dem aus Richards Büro in der City bequem zu
erreichen war. Während Richard in der Bank war, zeigte Anne ihrem
Sohn den Tower, Buckingham Palace und die Wachablöse. William fand
alles toll, außer dem englischen Akzent, den er nur mit Mühe
verstand.
»Warum sprechen sie nicht so wie wir, Mama?« fragte er und war
erstaunt zu hören, daß diese Frage meist umgekehrt gestellt wurde,
weil »sie« zuerst dagewesen waren. Die Wache in den hellroten
Uniformen mit den großen glänzenden Messingknöpfen vor dem
Buckingham Palace zu beobachten, wurde Williams
Lieblingsbeschäftigung. Er versuchte, mit den Soldaten ein Gespräch
zu beginnen, aber sie starrten unbeweglich an ihm vorbei ins
Leere.
»Können wir sie nach Hause mitnehmen?« fragte er seine
Mutter.
»Nein, Liebling. Sie müssen hierbleiben und den König
bewachen.«
»Aber er hat so viele, kann ich wenigstens einen haben?«
Eine »große Besonderheit«, wie sich Anne ausdrückte, war es, daß
Richard sich einen Nachmittag frei nahm und Frau und Sohn ins
Hippodrom führte, wo eine traditionelle englische Pantomime namens
»Jack and the Beanstalk« aufgeführt wurde. William war begeistert
von Jack, und in der Meinung, daß sich unter jedem Baum ein
Ungeheuer verbergen müsse, wollte er sofort alle Bäume der Umgebung
fällen. Nach der Vorführung tranken sie bei Fortnum and Mason Tee, und William durfte nicht nur
zwei Stück Sahnekuchen, sondern auch etwas Neumodisches essen, das
sich Doughnut nannte. Hernach mußte
William täglich zu Fortnum and Mason
geführt werden, wo er jedesmal ein Doughnut vertilgte.
Für William und seine Mutter vergingen die Ferientage zu rasch,
während Richard, der seine Arbeit in der Lombard Street erledigt
hatte und mit dem neuen Präsidenten zufrieden war, sich auf die
Abreise freute. Aus Boston kamen täglich Telegramme, und er sehnte
sich bereits wieder nach seinem eigenen Direktionszimmer. Als er
die Nachricht erhielt, daß sich fünfundzwanzigtausend Arbeiter
einer Baumwollfabrik, an der seine Bank hohe Anteile besaß, in
Streik befanden, war er froh, daß die geplante Abreise unmittelbar
bevorstand.
William freute sich auf die Rückkehr, auf seine beiden Großmütter
und darauf, Mr. Munro von all den aufregenden Dingen zu berichten,
die er in England gesehen hatte. Auch Anne fuhr gerne wieder
zurück, obwohl sie die Reise beinahe so genossen hatte wie ihr
Sohn, denn ihre Schönheit und Eleganz waren von den üblicherweise
kühlen Inselbewohnern sehr bewundert worden. Zum Abschluß ihres
Aufenthaltes nahm Anne einen Tag vor der Abreise William zu einem
Tee auf dem Eaton Square mit, den die Frau des neuen Direktors von
Richards Londoner Filiale gab. Ihr achtjähriger Sohn Stuart, mit
dem William zwei Wochen lang eifrig gespielt hatte, war ein
unentbehrlicher älterer Freund für den kleinen Amerikaner geworden.
Daß Stuart sich nicht wohl fühlte, nahm der Einladung allerdings
viel von ihrem Reiz. William erklärte sich sofort mit seinem Freund
solidarisch und verkündete seiner Mutter, daß er ebenfalls krank
sei. Man kehrte früher als geplant ins Hotel zurück. Anne hatte
nichts dagegen, da sie auf diese Weise das Packen der Schrankkoffer
überwachen konnte; außerdem war sie überzeugt, daß William nur
seinem Freund zuliebe vorgab, krank zu sein. Als sie William abends
ins Bett steckte, stellte sie leichtes Fieber fest und erzählte
Richard davon beim Nachtessen.
»Vermutlich nur die Aufregung vor der Abreise«, meinte Richard unbesorgt.
»Ich hoffe es«, erwiderte Anne. »Ich möchte
nicht, daß er während der sechstägigen Seereise krank
ist.«
»Morgen ist er bestimmt wieder in Ordnung«, erklärte Richard, und
es klang beinahe wie ein Befehl; doch als Anne am nächsten Morgen
ihren Sohn weckte, war er von kleinen roten Flecken übersät und
hatte hohes Fieber. Der Hotelarzt stellte Masern fest und erklärte
höflich, aber bestimmt, daß William nicht nur seinetwegen, sondern
auch im Interesse der anderen Passagiere nicht reisen dürfte. Es
blieb nichts anderes übrig, als William mit einer Wärmeflasche im
Bett zu lassen und auf die Abfahrt des nächsten Schiffes zu warten.
Eine dreiwöchige Verzögerung seiner Rückkehr konnte Richard sich
jedoch nicht leisten. Er beschloß, die Reise wie geplant
anzutreten. Widerwillig stimmte Anne den veränderten Reiseplänen
zu. William bettelte, mit seinem Vater reisen zu dürfen; die
einundzwanzig Tage bis zur Rückkehr der Aquitania nach Southampton schienen dem Kind wie
eine Ewigkeit. Richard blieb hart und ließ eine Krankenpflegerin
kommen, um seinen Sohn zu betreuen.
Anne fuhr mit Richard im neuen Rolls-Royce nach
Southampton.
»Ohne dich werde ich in London sehr einsam sein, Richard«, sagte
sie schüchtern beim Abschied, obwohl Richard gefühlvolle Frauen
nicht schätzte.
»Nun, meine Liebe, auch ich werde in Boston ohne dich etwas allein
sein«, erwiderte er, und seine Gedanken waren bereits bei den
streikenden Baumwollarbeitern.
Anne fuhr mit dem Zug nach London zurück und fragte sich, womit sie
sich während der nächsten drei Wochen beschäftigen sollte. William
verbrachte eine ruhigere Nacht, und am Morgen sahen seine Flecken
weit weniger gefährlich aus. Der Arzt und die Krankenpflegerin
bestanden jedoch auf Bettruhe. Anne schrieb lange Briefe an die
Familie, während William protestierend im Bett lag, aber Donnerstag
morgens stand er zeitig auf und erschien, weitgehend sein altes
Selbst, im Schlafzimmer der Mutter. Er kroch zu ihr ins Bett, und
seine kalten Hände weckten sie sofort. Anne war froh, ihn
wiederhergestellt zu sehen, und bestellte für ihn und für sich ein
Frühstück im Bett - ein Luxus, den Williams Vater nicht gebilligt
hätte.
Ein leises Klopfen an der Tür, und ein Mann in roter Livree mit
goldenen Tressen brachte ein großes silbernes Frühstückstablett.
Eier, Speck, Tomaten, Toast, Jam - ein richtiges Fest. William
schaute gierig auf die Speisen, als könne er sich nicht mehr
erinnern, wann er zum letzten Mal ordentlich gegessen hatte. Anne
warf einen flüchtigen Blick auf die Morgenzeitung. Richard pflegte
in London immer die Times zu lesen, daher
nahm die Hoteldirektion an, daß auch sie eine Zeitung haben
wolle.
»Schau«, sagte William und zeigte auf ein Bild in der Zeitung, »ein
Foto von Vatis Schiff. Was ist eine Katastrophe, Mami?«
Das Bild der Titanic nahm beinahe die
ganze Seite ein.
Anne vergaß, wie eine Lowell oder eine Cabot sich zu benehmen hat,
brach in Tränen aus und preßte ihren Sohn an sich. Eng umschlungen
saßen sie eine Weile im Bett; William verstand nicht ganz genau,
warum. Anne wußte, daß sie beide den Menschen verloren hatten, den
sie auf der Welt am meisten liebten.
Kurz darauf kam Sir Piers Campbell, der Vater des kleinen Stuart,
ins Ritz. Er wartete in der Halle, während die Witwe ein Kostüm
anzog, das einzige dunkle Kleidungsstück, das sie besaß. Auch
William zog sich an und wußte immer noch nicht recht, was eine
Katastrophe bedeutete. Anne bat Sir Piers, William die Bedeutung
der Nachricht zu erklären. William erwiderte nur: »Ich wollte mit
meinem Vater auf dem Schiff sein, aber man ließ es nicht
zu.«
Er weinte nicht, weil er nicht glauben wollte, daß seinem Vater
etwas zustoßen konnte. Bestimmt würde er unter den Überlebenden
sein.
In seiner ganzen Karriere als Politiker, Diplomat und jetzt als
Präsident von Kane and Cabot hatte Sir Piers niemals bei jemand so
jungem eine solche Selbstbeherrschung gesehen. Beherrschung ist nur
wenigen gegeben, hörte man ihn später sagen. Richard Kane hatte sie
besessen und an seinen Sohn weitergegeben.
Wieder und wieder las Anne die Listen der Überlebenden, die aus den
Vereinigten Staaten eintrafen. Jede von ihnen bestätigte, daß
Richard Lowell Kane vermißt, vermutlich ertrunken war. Nach einer
weiteren Woche gab sogar William beinahe alle Hoffnung
auf.
Anne fiel es schwer, an Bord der Aquitania
zu gehen, aber William war seltsam ungeduldig, in See zu stechen.
Er saß stundenlang auf dem Sonnendeck und starrte auf die eintönige
See.
»Morgen werde ich ihn finden«, versprach er seiner Mutter, zuerst
voller Zuversicht und später mit einer Stimme, die seine eigene
Hoffnungslosigkeit nicht mehr verbarg.
»Niemand kann drei Wochen im Atlantik überleben, William.« »Nicht
einmal mein Vater?«
»Nicht einmal dein Vater.«
Als Anne nach Boston zurückkehrte, wurde sie im Red House von beiden Großmüttern erwartet, die sich
ihrer neuen Pflicht voll bewußt waren. Sie hatten wieder die
Verantwortung übernommen, und Anne akzeptierte ihr
besitzergreifendes Verhalten. Annes Leben hatte keinen Inhalt mehr
außer William, dessen Schicksal die Großmütter zu bestimmen
schienen. William war höflich, aber unkooperativ. Tagsüber ließ er
sich schweigend von Mr. Munro unterrichten, und nachts weinte er im
Schoß der Mutter.
»Er braucht die Gesellschaft anderer Kinder«, erklärten die
Großmütter energisch, entließen Mr. Munro und das Kindermädchen und
schickten William, in der Hoffnung, daß er durch den Eintritt in
die reale Welt und die Gesellschaft anderer Kinder wieder der alte
werden würde, auf die Syre
Academy.
Richard hatte William praktisch zum Universalerben eingesetzt; bis
zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag war sein Vermögen im
Familientrust. Das Testament enthielt ein Kodizill: Richard
erwartete, daß sein Sohn durch eigene Verdienste Präsident von Kane
and Cabot werden würde. Das war der einzige Teil des Testaments,
der William einigen Ansporn gab, denn alles andere war schließlich
sein Geburtsrecht. Anne erhielt ein Kapital von fünfhunderttausend
Dollar und auf Lebenszeit eine Apanage von hunderttausend Dollar
pro Jahr nach Abzug der Steuern. Im Falle einer Wiederverheiratung
ginge sie dieses Einkommens verlustig.
Sie bekam das Haus auf Beacon Hill, das Sommerhaus an der
Nordküste, das Haus in Maine und eine kleine Insel bei Cape Cod mit
der Auflage, daß bei ihrem Tod der ganze Besitz an William
übergehen müsse. Beide Großmütter erhielten
zweihundertfünfzigtausend Dollar und Briefe, die keinen Zweifel
über ihre Pflichten ließen. Der Familientrust wurde von der Bank
verwaltet, Williams Taufpaten waren die Treuhänder. Die Zinsen
sollten jedes Jahr in konservative Unternehmen rückinvestiert
werden.
Die Großmütter trugen ein volles Jahr Trauer, und obwohl Anne erst
achtundzwanzig war, sah sie zum erstenmal im Leben so alt aus wie
sie war.
Anders als Anne verbargen die Großmütter ihren Kummer vor dem Kind,
bis William ihnen schließlich Vorwürfe machte.
»Geht dir mein Vater nicht ab?« fragte er und schaute Großmutter
Kane mit großen blauen Augen an, die sie an ihren Sohn
erinnerten.
»Doch, mein Kind, aber er hätte nicht gewollt, daß wir herumsitzen
und uns bemitleiden.«
»Aber ich will, daß wir immer an ihn denken - immer«, sagte
William, und seine Stimme zitterte.
»William, ich will einmal mit dir so reden, als wärst du bereits
erwachsen. Wir werden das Andenken deines Vaters immer in Ehren
halten, und du wirst das deine dazu tun, indem du das erreichst,
was dein Vater von dir erhofft hat. Du bist jetzt das Oberhaupt der
Familie und der Erbe eines großen Vermögens. Deshalb hast du die
Pflicht, dich dieses Erbes würdig zu erweisen und im gleichen Geist
weiterzuarbeiten, in dem dein Vater gearbeitet und dein Vermögen
vermehrt hat.«
William antwortete nicht. Sein Leben hatte jetzt einen Sinn
bekommen, und er nahm sich den Rat der Großmutter zu Herzen. Er
lernte mit seinem Schmerz zu leben, ohne zu jammern. Von diesem
Moment an stürzte er sich auf die Arbeit in der Schule und war erst
zufrieden, wenn Großmutter Kane sich beeindruckt zeigte. Er
sammelte in allen Gegenständen Auszeichnungen, und im Rechnen war
er nicht nur der Klassenbeste, sondern seinen Mitschülern weit
voraus. Was immer sein Vater erreicht hatte, wollte er übertreffen.
William schloß sich noch enger an seine Mutter an und begegnete
jedem, der nicht zur Familie gehörte, mit Mißtrauen, so daß man ihn
oft für einen Einzelgänger und - ungerechterweise - für einen Snob
hielt.
An Williams siebenten Geburtstag hielten die Großmütter die Zeit
für gekommen, William mit dem Wert des Geldes bekannt zu machen.
Sie gaben ihm jede Woche einen Dollar Taschengeld, bestanden jedoch
darauf, daß er über alle Ausgaben Buch führe. Zu diesem Zweck
erhielt er ein in grünes Leder gebundenes Kassenbuch, das
fünfundzwanzig Cents gekostet hatte; dieser Betrag wurde von seinem
ersten Dollar Taschengeld abgezogen. Jeden Samstagmorgen erhielt
William von den Großmüttern das Taschengeld. Er investierte fünfzig
Cents, gab zwei Cents aus, spendete zehn Cents für wohltätige
Zwecke und behielt zwanzig Cents in Reserve. Vierteljährlich
überprüften die Großeltern die Ausgaben und den handschriftlichen
Bericht über alle Transaktionen. Nach den ersten drei Monaten war
William bereit, Rechenschaft abzulegen: Er hatte den eben
gegründeten Boy Scouts of America einen
Dollar und zwanzig Cents gespendet und vier Dollar erspart, mit
denen Großmutter Kane auf sein Bitten bei der Bank seines Taufpaten
J. P. Morgan ein Sparkonto eröffnete. Seine Privatausgaben, über
die er keine Rechenschaft ablegen mußte, betrugen drei Dollar und
achtzig Cents, einen Dollar behielt er in Reserve. Sein Kassenbuch
war für die Großmütter eine Quelle tiefer Befriedigung; kein
Zweifel, William war Richard Kanes Sohn.
In der Schule hatte William wenig Freunde, zum Teil, weil er zu
schüchtern war, sich an jemand anderen anzuschließen als an Cabots,
Lowells oder Kinder aus noch reicheren Häusern. Damit war die
Auswahl der Freunde beschränkt, und er wurde ein verschlossenes
Kind, was seiner Mutter Sorgen bereitete. Ihr wäre es lieber
gewesen, wenn William ein normales Leben geführt hätte, und im
geheimen gefiel ihr weder das Kassenbuch noch das
Investitionsprogramm. An Stelle alter Ratgeber wünschte sie sich
für William viele junge Freunde; sie wollte, er liefe schmutzig und
zerschunden umher und sähe nicht wie aus dem Ei gepellt aus; sie
wollte, er sammelte Käfer und Kröten und nicht Aktien und Bilanzen.
Mit einem Wort, sie wollte ein Kind haben, das so war wie alle
anderen Kinder. Aber sie brachte nie den Mut auf, mit den
Großmüttern darüber zu reden, und die Großmütter interessierten
sich auch nicht für andere Kinder.
An seinem neunten Geburtstag überreichte William den Großmüttern
sein Buch zur zweiten jährlichen Überprüfung. Das grüne Lederbuch
wies nach zwei Jahren nun einen Sparbetrag von mehr als fünfzig
Dollar aus. Auf eine mit B 6 bezeichnete Eintragung war William
besonders stolz; sie zeigte, daß William sofort nach Bekanntwerden
des Todes von J. B. Morgan sein Geld aus dessen Bank genommen
hatte, weil er sich erinnerte, daß die Aktien der väterlichen Bank
gefallen waren, nachdem der Tod seines Vaters bekannt geworden war.
Den gleichen Betrag hatte er drei Monate später, bevor die
Öffentlichkeit erkannte, daß der Tod des großen Finanziers der
Gesellschaft nichts anhaben konnte, wieder angelegt.
Die Großmütter zeigten sich beeindruckt und erlaubten William, sein
altes Fahrrad zu verkaufen und ein neues anzuschaffen, wonach er
immer noch eine Kapitalsumme von mehr als hundert Dollar besaß, die
seine Großmutter für ihn bei der Standard Oil
Company of New Jersey anlegte. Erdöl, sagte William weise, kann
nur teurer werden. Er hielt das grüne Lederbuch bis zu seinem
einundzwanzigsten Geburtstag sorgfältig à jour. Wären die
Großmütter zu diesem Zeitpunkt noch am Leben gewesen, sie wären auf
die letzte Eintragung in der rechten Spalte unter »Haben« stolz
gewesen.